Wer in alten Postkarten stöbert, findet bei Schiersteiner Motiven oft den Zusatz „Tor zum Rheingau“. Doch diesem Beinamen, den die Schiersteiner sich immer schon mit dem benachbarten Walluf, aber auch mit dem höher gelegenen Frauenstein teilen mussten, begegnet man immer seltener. Das omnipräsente Element des Schiersteiner Ortsmarketings ist der Hafen geworden. Auf den Internetseiten des traditionsreichen Schiersteiner Verschönerungsvereins finden sich sogar ausschließlich Hafenmotive!
Bis 1858 floß der Rhein direkt an Schierstein entlang, durch einige Inseln in der Flussmitte in mehrere Arme geteilt. Im Zuge eines Handelskriegs mit dem Großherzogtum Hessen, das in Mainz über einen winterfesten Hafen verfügte, entstand im Herzogtum Nassau der Plan, zwei dieser Inseln über Dämme mit dem Schiersteiner Festland zu verbinden und so aus diesem Teil des Rheins ein Hafenbecken zu formen, das nur noch über die schmale Lücke zwischen den beiden Inseln mit dem Rhein verbunden sein würde. Als der Plan ausgeführt war, lag das alte Fischerdorf Schierstein nicht mehr an einem vorbeifließenden Strom, sondern an einem großen, strömungsfreien Hafenbecken, hinter dessen Deich in einiger Entfernung der Fluss nur noch zu erahnen war.
Mit der Fertigstellung des Hafens begann eine Hoch-Zeit der Flößer in Schierstein, das zu ihrer Heimatstation wurde, da die schmalen Holzflöße aus dem Main und dem Neckar im Schutz dieses neuen Hafens zu größeren Gebilden zusammengefügt werden konnten, dazu kamen noch die Holzstämme aus dem Taunus. Von hier aus reisten die nun riesigen Flöße, auf denen Besatzungen von der Größe ganzer Dörfer lebten, Richtung Norden bis nach Holland.
Auch Schiersteins Fischer erlebten durch den Hafenbau eine neue Blütezeit, denn der Hafen entwickelte sich schnell zu einem beliebten Ausflugsziel und Trainingsgelände für Ruderer und rund um den Hafen eröffneten Fischrestaurants, die Salm und Backfisch servierten.
Als Industriehafen erlangte Schierstein allerdings nur geringe Bedeutung, die nach dem zweiten Weltkrieg zudem mehr und mehr an den Stadthafen von Mainz verloren ging. Als nach der Jahrtausendwende auch die Flusspioniere der Bundeswehr ihren Standort im Osten des Hafenbeckens aufgaben, wurde der Weg frei für einen durchgängigen Fußweg rund um das Hafenbecken und die Errichtung exklusiver Wohnungen in Wasserlage, mit flutbarer Tiefgarage und der Möglichkeit, das eigene Boot in der davor gelegenen Marina festzumachen.
Wer, vom Rheingau hinabsteigend, durch die verwinkelten, vom Krieg weitgehend verschont gebliebenen und zugleich nicht übermäßig herausgeputzten Gassen des einstigen Fischer- Wein- und Bauerndorfes wandert und plötzlich vor dem großen Hafenbecken auf der Promenade mit ihrer Doppelreihe Platanen steht, der spürt, bei aller Aufenthaltsqualität, die diese „Schiersteiner Riviera“ bietet, dass hier Welten aufeinanderprallen.