Der kleine Park am oberen Ende des Straßenmühlenwegs hat keinen Namen. Er ist der letzte Rest eines einst ausgedehnten Eisenbahnareals, des Güterbahnhofs Wiesbaden West. Dessen Lage auf der damals noch unbebauten Anhöhe über der Stadt war eine Folge des Ausbaus Wiesbadens zur Kurstadt ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: „Normalerweise“ wäre der Güterbahnhof in direkter Nachbarschaft zum damals neu angelegten Hauptbahnhof entstanden, aber der Kaiser persönlich befand, dass Kurbetrieb und Güterbahnhof schlecht zusammen passen würden und entschied, ihn an den Rand der Aartalbahn zu legen. Nur dass auf der Aartalbahn kaum Güter nach Wiesbaden kamen. Diese kamen entweder mit der Taunusbahn aus dem Raum Frankfurt oder aus dem Rheintal und die 50 Meter Höhenunterschied waren für die Züge schwer zu überwinden. Die Lösung bestand schließlich darin, dass den Zügen im Bahnhof Wiesbaden Ost eine zweite Lok vorgespannt wurde. Einmal oben angekommen, mussten die Waren dann den ganzen Weg mit Fuhrwerken wieder runter in die Stadt transportiert werden.
Was dem Kaiser ganz gelegen gekommen sein dürfte: Am Rande des neuen Güterbahnhofs lag ein riesiger Kasernenkomplex, in dem tausende Soldaten mit Ausrüstung und Verpflegung versorgt werden wollten. Die weitgehend erhalten gebliebenen Gebäude wurden nach dem zweiten Weltkrieg von den Amerikanern belegt, die hier ihr Hauptquartier für die europäischen Luftwaffenstandorte einrichteten. Nach dem Auszug der US Air Force 1993 wurden die einstigen Exerzierflächen unter dem Projektnamen Europaviertel mit Wohnungsbau nachverdichtet und in die denkmalgeschützten Kasernengegäude zogen das Bundeskriminalamt, die Volkshochschule, städtische Behörden und private Büros ein.
Der Güterbahnhof befand sich seit den 6oer Jahren auf dem absteigenden Ast. Um die Jahrtausendwende wurde der Betriebszweck „Eisenbahn“ aufgehoben. Nach dem Abriss der Bauten und Gleise entstand auch hier ein neuer Stadtteil namens Künstlerviertel.
Der kleine Park zwischen den beiden neuen Stadtvierteln lässt erstaunlicherweise noch etwas von der rauhen Weite des Gleisfelds und der Exerzierflächen erahnen, die hier einmal geherrscht haben muss.
Übrigens: Nicht nur in Wiesbaden bestimmte Kaiser Wilhelm mit seinen Eisenbahnentscheidungen wesentlich die Stadtentwicklung: In Köln z.B. ordnete er persönlich an, dass die erste Eisenbahnbrücke über den Rhein direkt auf den Dom zuführen solle, statt, wie es in Europa üblich war, die Bahn nur bis an den Rand der Innenstadt zu führen. Er wollte die beiden symbolträchtigen Bauwerke, in die der preußische Staat so viel Geld und technisches Knowhow steckte, buchstäblich zusammenführen.